Prämissen des Lehrprojektes

Archive, Gedenk- und Erinnerungsstätten bieten nicht nur vielfältige thematische, methodische und mittlerweile auch inklusive Zugänge für zeithistorisches Lernen und fördern historisch-politische Urteilsbildung. Sie regen ebenso die Auseinandersetzung mit gegenwartsrelevanten Fragen wie Grenzregime, Migration oder den Werten demokratischer Gesellschaften an und sind als Orte des gesellschaftlichen Diskurses zum Umgang mit der doppelten deutschen Diktaturgeschichte für eine demokratische Geschichtskultur zentral.

Die Nutzung dieser vielschichtigen Lernpotentiale hängt allerdings maßgeblich von den fachlichen, didaktischen, pädagogischen und organisatorischen Kompetenzen der Lehrkräfte ab. Denn sie regen historische Lernortbesuche an, wählen außerschulische Bildungsangebote aus und können durch Vor- und Nachbereitung von historischen Lernortbesuchen Interesse wecken und historisch-politische Lernprozesse anstoßen.

Dies setzt voraus, dass Lehrkräfte

  • die geschichtskulturellen Funktionen und Potentiale außerschulischer Lernorte kennen, analysieren und beurteilen können;
  • unterschiedliche und auch fächerübergreifende Bildungsangebote (z. B. historische Spurensuche, Zeitzeugengespräch, Schreibwerkstatt) kennen und auch bereits über eigene Erfahrungen verfügen;
  • mit Gedenkstätten- und Archivpädagog:innen kooperieren;
  • historische Lernortbesuche in den Unterricht integrieren.

Daher verfolgen die universitären Lehr- und Lernkonzepte zwei zentrale Anliegen:

  • Erstens sollten Studierende bereits in einer frühen Phase ihres Professionalisierungsprozesses fachbezogene Kompetenzen für die Arbeit an und mit außerschulischen Lernorten zur Geschichte der SED-Diktatur und doppelten deutschen Diktaturgeschichte aufbauen (Link: Kompetenzmodell).
  • Zweitens sollten Studierende im Austausch mit Expert:innen der Lernorte Struktur und Ziele gedenkstätten- und archivpädagogischer Angebote erkunden, erproben, analysieren und auf Augenhöhe mit Expert:innen vor Ort diskutieren sowie Möglichkeiten der Kooperation kennenlernen.

Kooperation Universität und historische Lernorte

Die enge Kooperation zwischen Universitäten und historischen Lernorten ist die entscheidende Gelingensbedingung für die Entwicklung der Lehrformate.

Die Kooperation im Rahmen des Projektes

  • fördert den Austausch über professionelle Entwicklungsbedarfe im Bereich Gedenkstätten- und Archivpädagogik zwischen Universität und außerschulischen Lernorten und damit ein Verständnis institutionenspezifischer Perspektiven;
  • ermöglicht eine enge Verzahnung von Theorie und Praxis in Lehrformaten;
  • ist Voraussetzung für die Institutionalisierung der Kooperation und damit für eine dauerhafte Implementierung der Ausbildungsformate in universitäre Curricula;
  • sensibilisiert Studierende durch Gespräche vor Ort für die Bedeutung der Kooperation zwischen Gedenkstätten und Lehrkräften;
  • fördert die Reflexion des professionellen Selbstverständnisses von Lehramts- und Geschichtsstudierenden.

Hochschuldidaktische Lehr-Lernkonzepte

3.1 Grundlagen

Ausgangspunkt für die Entwicklung von hochschuldidaktischen Lehr-Lernkonzepten waren a) die Erhebung der Präkonzepte Studierender in der ersten Phase der Lehrerbildung sowie b) die Potentialanalyse der kooperierenden Lernorte.

Die Erhebung der Präkonzepte Studierender zum Lernen an und mit außerschulischen Lernorten erfolgte an der Universität Münster erstmalig im Sommersemester 2022. Exemplarisch werden nachfolgend wesentliche Befunde aus diesem Semester zusammengefasst:

  • Die große Mehrzahl der Studierenden hat historische Lernorte zumeist nur im schulischen Kontext oder als Individualbesucher:in kennengelernt. Daher haben Studierende bislang keine analytisch-didaktische Perspektive auf außerschulische Lernorte entwickelt. (Folie 1)
  • Eigene Besuchererfahrungen haben Studierende in erster Linie mit historischen Lernorten (insb. Gedenkstätten zur Geschichte der NS-Diktatur gesammelt. (Folie 2)
  • Lernpotentiale werden häufig auf methodisch-didaktischer Ebene (z. B. im Bereich des ganzheitlichen Lernens) oder – eng damit verknüpft – auf der Ebene ortspezifischer Möglichkeiten (z. B. Veranschaulichung/Visualisierung) genannt. (Folie 3 u. 4)
  • Auch werden die Potentiale von emotional-affektiven Zugängen am „authentischen“ (oder „auratischen“) Ort hervorgehoben; teilweise verknüpft mit der Erwartung, an solchen Orten Geschichte „nacherleben“ oder „nachempfinden“ zu können. (Folie 3, 6, 7)
  • Auf fachlicher Ebene werden Lernpotentiale häufig im Bereich des Aufbaus von historischem Sachwissen (bzw. allgemeiner: der „Aufklärung“/ „Informationsvermittlung“) gesehen. Ein Grund dafür könnte sein, dass Studierenden vornehmlich Führungen als pädagogische Angebote bekannt sind und Vorerfahrungen mit anderen Bildungsformaten in den allermeisten Fällen nicht bestehen. (Folie 5)
  • Auf Möglichkeiten der Förderung von (historischer) Urteilsbildung wird hingegen selten eingegangen. Demzufolge werden historische Lernorte nur in Einzelfällen als diskursive Orte wahrgenommen. (Folie 5)
  • Unsicherheit besteht vor allem in Fragen der Vor- und Nachbereitung von Besuchen an historischen Lernorten – dies betrifft sowohl die fachdidaktische als auch die organisatorische und pädagogische Ebene. (Folie 8)
  • Vorbehalte bestehen in Bezug auf zeitliche und finanzielle Ressourcen zur Durchführung von Exkursionen. (Folie 9)

Die Angebotsstruktur der kooperierenden historischen Lernorte bildete die zweite Grundlage für die Entwicklung der Lehr- und Exkursionsformate. Mit Blick auf die Ausgangslage und die Professionalisierungsziele wurden folgende Potentiale als professionsrelevant markiert. Die kooperierenden historischen Lernorte ermöglichen und unterstützen

  • exemplarische thematische und gegenwartsrelevante Zugänge zur Geschichte der SED-Diktatur (Teilung und Grenze; Migrationsgeschichte; Überwachung und Verfolgung);
  • eine Thematisierung der Entstehungs- und laufenden Diskursgeschichte des Lernortes;
  • die Auseinandersetzung mit und den Vergleich von lernortspezifischen Quellengruppen (z. B. bauliche Überreste, Stasi-Akten, museale Objekte, Zeitzeugeninterviews);
  • Analyse, Erprobung, Vergleich und Diskussion von gedenkstätten- und archivpädagogischen Angeboten für unterschiedliche Schulformen und Schulstufen;
  • eine Analyse von Dauerausstellung(en) und den kritischen Diskurs über lernortspezifische (Neu)Konzeptionen;
  • einen Austausch Studierender mit Gedenkstätten- und Archivpädagog:innen über Erfahrungen zur Arbeit mit Schülergruppen und Kooperation mit Lehrkräften;
  • die Entwicklung von Vor- und Nachbereitungskonzepten.

3.2 Ziele

Im Sinne einer praxisrelevanten Professionalisierung von Geschichtslehrkräften adressierten die Lehr-Lernkonzepte aufeinander bezogene Kompetenzbereiche (Link zu Kompetenzmodell).

Studierende des Faches Geschichte sollen

  • Überzeugungen und Werthaltungen zur Relevanz historischer Lernorte für historisch-politische Bildung, Demokratieerziehung und Erinnerungskultur entwickeln und reflektieren;
  • Geschichtswissen u.a. zur DDR- und deutschen Teilungsgeschichte; zur Entstehung, Funktion und thematischen Struktur von Gedenkstätten- und Erinnerungsorten zur doppelten deutschen Diktaturgeschichte; zu themen- und lernortspezifischen Quellengattungen aufbauen und damit verbundene wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse kennen;
  • Geschichtsdidaktisches Wissen u.a. zu geschichtsdidaktischen Kategorien der Analyse von außerschulischen Lernorten und historischen Ausstellungen (z. B. Emotionalität, Perspektivität); zu fachdidaktischen Strategien (z. B. lernortspezifische Bildungsangebote, Multiperspektivität) sowie zur Entwicklung adaptiver Formate der Vor- und Nachbereitung aufbauen;
  • Pädagogisches Wissen zu Möglichkeiten der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung von Lernortbesuchen aufbauen sowie Möglichkeiten der Differenzierung und des inklusiven historischen Lernens an historischen Lernorten kennenlernen.
  • Organisationswissen u.a. zur Vor- und Nachbereitung sowie zur Durchführung von Exkursionen zu historischen Lernorten aufbauen und dabei Kooperationsmöglichkeiten zwischen Schule und Lernort kennenlernen;
  • Motivation und selbstregulative Fähigkeiten zur Planung und Durchführung historischer Lernortbesuche aufbauen.

3.3 Lehrformate

Im Rahmen der dreijährigen Projektlaufzeit wurden unterschiedliche Lehrformate entwickelt, erprobt und evaluiert.

  • Lehrformate mit dem Fokus auf die geschichtsdidaktische Professionalisierung von Lehramtsstudierenden. Diese geschichtsdidaktischen Seminare an der Universität Münster basieren auf einem gemeinsamen theoretischen Fundament. Sie setzen den Schwerpunkt auf die Erschließung der Funktionen von Gedenkstätten und historischen Lernorten sowie die theoriebasierte Entwicklung von Leitfragen zur Analyse von Lernorten, Ausstellungen und Bildungsangeboten. In Bezug auf den thematischen Fokus, die Modi der Kooperation mit historischen Lernorten, die Verzahnung von universitärer Vor- und Nachbereitung sowie die Methoden der Seminararbeit setzen die Formate unterschiedliche Akzente.

Zu den geschichtsdidaktischen Lehrformaten:

  • Lernorte digital erkunden (WiSe 2021/22)
  • Potentiale historischer Lernorte diskutieren (SoSe 2022).
  • Historische Ausstellungen weiterdenken (WiSe 2022/23)
  • Biografische Fallbeispiele rekonstruieren (SoSe 2023)
  • Fächerübergreifende Bildungsangebote reflektieren (SoSe 2023)

Lehrformate mit dem Fokus auf die Professionalisierung im Bereich Public History:

  • Verdeckte migrantische DDR-Erfahrung. Ein Podcastprojekt

Mehrwert für die Geschichtslehrkräftebildung

  • Studierende können an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis bereits in einer frühen Phase ihres Professionalisierungsprozesses Kompetenzen zur Arbeit an und mit außerschulischen Lernorten aufbauen. Hier hat sich insbesondere die Möglichkeit des Vergleichs unterschiedlicher historischer Lernorte als zielführend erwiesen.
  • Studierende lernen Kriterien für die Beurteilung von Lernorten kennen, beurteilen didaktische Potentiale von gedenkstätten- und archivpädagogischen Angeboten und reflektieren die Notwendigkeit der Vor- und Nachbereitung von Besuchen am historischen Lernort.
  • Studierende erhalten die Möglichkeit, sich in fachlicher und didaktisch-methodischer Perspektive mit lehrplanrelevanten Themen der DDR- und deutschen Teilungsgeschichte auseinanderzusetzen, die zudem gegenwartsrelevant sind (z. B. Grenze(n), Flucht und Migration, Überwachung).
  • Zudem sensibilisiert die Zusammenarbeit mit Gedenkstätten- und Archivpädagog:innen für die Bedeutung der Kooperation mit außerschulischen Partnern.

Das Evaluationstool erwies sich als funktionales Werkzeug zur Weiterentwicklung bzw. Optimierung von Lehrformaten (es diente nicht als Forschungsinstrument)

  • Semesterübergreifend ließ sich feststellen, dass Studierende am Ende der Lehrveranstaltungen kognitive Zugänge gegenüber emotional-affektiven Zugängen bei der Auseinandersetzung mit historischen Lernorten stärker herausstellen.
  • Als besondere Potentiale sehen sie u.a. die Zusammenarbeit mit Archiv-/ Gedenkstättenpädagog:innen sowie die Möglichkeiten der Förderung von historischer Urteilsbildung oder der Auseinandersetzung mit Erinnerungskultur; den „Möglichkeiten des Nacherlebens von Geschichte“ stehen Studierende (nun) kritisch(er) gegenüber.

Mehrwert der Lehr-Kooperation

Durch eine dauerhafte Kooperation zwischen Lehrerbildung und historischen Lernorten kann

  • DDR-Geschichte und Gedenkstätten-/Archivpädagogik im universitären Lehrprogramm fest etabliert werden. Ferner wächst durch Verstetigung auch die Nachfrage bei Studierenden, gleichzeitig reduziert sich der Planungsaufwand.
  • Forschung zur Gedenkstätten- und Archivpädagogik angeregt werden (z. B. Haus- und Masterarbeiten)
    Studierenden Profilbildung im Bereich Gedenkstätten-/ Archivpädagogik ermöglicht werden. Sie erwerben so eine Expertise, die bei schulscharfen Einstellungen gefragt ist.

Autorin: Prof. Dr. Saskia Handro, Universität Münster

Titel-Bild:
Exkursion für Gedenkstättenkompetenz Bund für Bildung_01. und 02.Juni / Fotos Stefan Günther / 0163.7165778 / mail@stefanguenther.de