Am 4. und 5. November 2021 fand der Workshop „#Gedenkstättenkompetenz – Lernen an und mit außerschulischen Lernorten“ mit 24 Expert:innen der Archiv- und Gedenkstättenpädagogik, der akademischen und schulpraktischen Lehrkräfteausbildung, der Unterrichtspraxis und der politischen Bildung in der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt statt.

Zielsetzung

Ziel des Workshops

Der Workshop bildete den Auftakt zum gleichnamigen Projekt, das darauf ausgerichtet ist, Lehrkräfte in verschiedenen Phasen ihrer Aus- und Weiterbildung bei der Entwicklung von Kompetenzen zur Arbeit an historischen Orten der deutschen Diktatur- und Teilungsgeschichte zu unterstützen und sie zu befähigen, ihre Schüler:innen in der Entwicklung eines fundierten und reflektierten Geschichts- und Demokratiebewusstseins zu fördern.

Ziel des Auftaktworkshops war es, bereits frühzeitig die Erfahrungen, Bedarfe und Anregungen seitens der genannten themenrelevanten Bereiche einzubinden und in einen gemeinsame Diskussionsprozess einzutreten. Dabei ging es vorrangig um

  • die Projektvorstellung mit Professionalisierungsperspektiven in der Lehrkräfteausbildung
  • die Chancen und Herausforderungen für eine Verknüpfung mit themenrelevanten Bereichen
  • konkrete Einbindungs- und Umsetzungsansätze, die sodann frühzeitig mitgedacht werden.

Die Veranstaltung folgten den 2G+ COVID-19-Schutzregeln.

Tag 1 – Einstieg

Erwartungen und Anliegen der Teilnehmenden

Im ersten Teil des WS formulierten alle Teilnehmenden ihre Erwartungen und besonderen Anliegen bezüglich des Workshops und tauschten sich in Teams aus.

Hierbei wurden folgende Interessen sichtbar:

  • Perspektiven kennenlernen: Wie blicken Didaktiker auf die Arbeit mit Schüler:innen an Gedenkstätten? Welche Erfahrungen haben die Teilnehmenden aus der Schulpraxis gemacht? Wer hat sich mit welchen Ideen eingefunden?
  • Umsetzungsfragen: Wie gelingt der Transfer aus der Theorie in die Praxis? Wie lässt sich das Projektkonzept umsetzen? Wie lassen sich die Perspektiven der vielfältigen Akteur:innen zusammenführen?
  • Lehrkräfteausbildung: Wie können wir zielgruppen-geeignete Formate für Lehrkräfte professionalisieren? Wie kann es gelingen, die Arbeit an und mit außerschulischen Lernorten in der Lehrkräftebildung zu verankern?
  • Kooperation Schule – außerschulischer Lernort: Wie kann man das Thema Gedenkstätten an Schulen bringen? Wie kann Gedenkstättenarbeit im Unterricht sinnvoll vor- und nachbereitet werden? Wie kann die Schulleitung konstruktiv eingebunden werden?
  • Begriffsschärfung: Was heißt Gedenkstättenkompetenz? Was verstehen wir darunter?

Vorstellung des Projekts

Ulrike Wunderle vom Bund für Bildung e.V. stellte das Projekt in seinen Grundzügen vor. Hierbei legte sie einen besonderen Schwerpunkt auf den Prozesscharakter in der Arbeit mit Studierenden in Seminaren und Exkursionen in vier aufeinanderfolgenden Semestern und mit Expert:innen (der Archiv- und Gedenkstättenpädagogik, der akademischen & schulpraktischen Lehrkräftebildung, der Unterrichtspraxis und der politischen Bildung) in einem integrierten Workshop-Prozess.

Mit dem Auftaktworkshop und dem gleichzeitigem Beginn des Wintersemesters 2021/22 begann folglich die aktive Arbeitsphase im Rahmen des Projekts.

Professionalisierungsperspektiven

Impulsvortrag: Professionalisierungsperspektiven

Saskia Handro von der Universität Münster leitete die inhaltliche Diskussion mit ihrer Impuls zu „Professionalisierungsperspektiven in der Lehrkräftebildung: Schulen und Gedenkstätten zusammenbringen“ ein. Besondere Aufmerksamkeit schenkte sie dabei den Präkonzepten von Studierenden (gezeigt an jenen der Teilnehmenden ihres aktuellen Seminars zum Thema):

  • Studierende haben nur Lernerfahrungen mit Gedenkstätten
  • Emotionalität, Authentizität begreifen sie als zentrale Lernortcharakteristika
  • Geschichtsdidaktische Potentiale können noch nicht lernortspezifisch konkretisiert werden
  • Modelle zur Vor- und Nachbereitung werden als zentral herausgestellt
  • Eigene Handlungskompetenzen werden als gering beurteilt

Dem stellte sie das Potential der Lernorte zur „historischen Urteilsbildung und Kontroversität an Lernorten der deutsch-deutschen Geschichte“ gegenüber. Bereits in Vorbereitung zur ersten Exkursion 2020 im Projekt „Geschichtsbewusst!“ wurden Angebote zur Institutionengeschichte als Diskursgeschichte, zur Raum- und Ausstellungsanalyse, zur Analyse lernortspezifischer Quellengruppen, laufender Diskursen sowie zur Vorstellung, Erprobung und kriteriengeleiteten Analyse von archiv- und gedenkstättenpädagogischen Angeboten als thematische Schwerpunkte für alle Lernorte im Projekt verhandelt.

In der überarbeiteten Präsentation nimmt Saskia Handro insbesondere Bezug auf den Begriff der #Gedenkstättenkompetenz.

Herausforderungen

Aktuelle Herausforderungen erkunden

Im folgenden Teil des Workshops blickten die Teilnehmenden aus ihrer jeweiligen Perspektive auf die Herausforderungen, die sich angesichts des Ziels, Schulen und Gedenkstätten zusammenzubringen, ganz konkret ergeben.

Cluster-Bildung nach der Diskussion, © Bund für Bildung e.V.

Die Themen wurden im Nachgang zusammengefasst:

  • Emotionalität: eine Reflexion des Umgangs mit „Emotionalinszenierung“ fehlt;
  • Erwartungshaltungen: Annahme der „Authentizität“;
  • Sprache und Vielfalt: Sprache (z.B. in Archiven) dominiert die Vermittlungarbeit; Anschlussfähigkeit an die Vielfalt der heutigen Gesellschaft schaffen;
  • Erreichbarkeit und Kommunikation mit der Zielgruppe: an Lehrkräfte herankommen;
  • Überlastung: mangelnde zeitliche und finanzielle Ressourcen an GS und Schulen;
  • Politischer Wille fehlt: Marginalisierung des Geschichtsunterrichts an Schulen;
  • Aus- und Fortbildung von Lehrkräften, auch für die Fächer GeWi (5. und 6. Klasse);
  • Motivation und Anreize: Vor- und Nachbereitung im Unterricht zur Generierung von Grundwissen, Informationen;
  • Mut, Reflexion und Motivation der Lehrkräfte und der Schulleitung;
  • Weniger Fächersilos, mehr Projektorientierung und neue Formate entwickeln.

Einblicke: Die kuratorische und pädagogische Arbeit in der Andreasstraße

Dr. Jochen Voit und Judith Mayer zeigten den Teilnehmenden anhand ihrer Führungen durch die Dauer- und Sonderausstellungen in der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße, wie sie in ihrer kuratorischen und pädagogischen Arbeit auf die besonderen Interessen und Bedarfe von Jugendlichen bzw. Schulklassen eingehen – immer auch mit etwas Zeit, den Ort selbst zu erkunden. Eine Ansatz der Gedenkstätte ist es beispielsweise, die Reflexion über individuelle Handlungsmöglichkeiten in der DDR anzuregen, indem Besucher:innen in ganz konkreten Entscheidungssituationen gegensätzliche Lösungsoptionen mit den jeweils wahrscheinlichen Konsequenzen auswählen können. „Sag mir, wo du stehst“ im Comic-Raum

Tag 2 – Lösungsansätze

Einstiegsdiskussion

Gleich zu Beginn des zweiten Workshop-Tages wurden – basierend auf den Diskussionen des Vortags – zentrale Erwartungen an das Projekt #Gedenkstättenkompetenz formuliert:

Es sei wichtig

  • zu verdeutlichen, dass der Fokus auf der Förderung professioneller Kompetenzen von Lehrkräften beim Lehren und Lernen an und mit außerschulischen Lernorten liege,
  • herauszustellen, dass weniger curriculare Debatten als die Überzeugungen und Haltungen von Lehrkräften in Auseinandersetzung mit außerschulischen Lernorten während ihrer LK-Ausbildung im Mittelpunkt stehen,
  • darauf hinzuarbeiten, dass Lehrkräfte Gedenkstättenbesuche als eine Bereicherung erkennen und nicht als Druck oder Zwang (bzw. als Ersatz für Unterricht) verstehen.

Für das Projekt gelte daher,

  • den Mehrwert von Gedenkstättenbesuchen herauszuarbeiten,
  • die Besonderheiten jedes einzelnen außerschulischen Lernorts in seiner Perspektivität, Entstehungsgeschichte, institutionellen Anbindung sowie in seinem Vermittlungsziel in der Lehrkräfte-Professionalisierung zu vermitteln,
  • die diskursive Funktion von Gedenkstätten und Archiven herausstellen,
  • die Auseinandersetzung mit außerschulischen Lernorten als historisch-politische Bildungsarbeit zu verstehen,
  • einen fächerübergreifenden Ansatz in der archiv- und gedenkstättenpädagogischen Arbeit mit Raum für Multiperspektivität zu fördern und damit den großen Mehrwert des Lernens an und mit außerschulischen Lernorten aufzuzeigen,
  • gemeinsam die Besonderheiten in der Vermittlung der DDR-Geschichte als deutsch-deutsche Geschichte an außerschulischen Lernorten zu erkunden und herauszuarbeiten.

Schwerpunktsetzungen – Von der Vision zum konkreten Handeln

Aufbauend auf diese Diskussion wurden anhand der Fragestellung „Wie können wir was… verändern?“ (WKW-Frage) Schwerpunktsetzungen erarbeitet und schließlich Möglichkeiten der Veränderung anvisiert. Diese Schwerpunktsetzungen fließen direkt in den Arbeitsprozess zu konkretem Handeln ein.

Ausgehend von einer Vision für 2030 in einzelnen Gedankenschritten zurück in die Gegenwart – die Reflexion über konkretes Handeln angeregt. Die Ideen und Anregungen der folgenden Gruppenarbeitsphase wurde im Plenum präsentiert und von den anderen Teilnehmenden kommentiert. Sie können als Ergebnisse des Workshops herangezogen und weiter entwickelt werden:

Synergieeffekte und Mehrwerte

Es gilt, Synergieeffekte in der gemeinsamen Vorbereitung zu schaffen, hierbei ist Rollenklarheit wichtig, die durch einen Austausch zwischen den Bildungspartner:innen in außerschulischen Lernorten und Schule gewährleistet werden kann. Hierdurch können wechselseitige Erwartungen geklärt, Kompetenzen und Bedarfe kommuniziert werden. Konkretisiert werden könnte dies durch online-Vorbereitungstreffen, in der erste Fragen gesammelt und Input gegeben werden kann; ebenfalls für eine Nachbereitung denkbar.

Verzahnung

Vor allem Referendar:innen, die Geschichte, Politikwissenschaft oder Geographie studiert haben und nun Geschichte im Verbundfach unterrichten, verspüren oft ein Defizit an fächerübergreifenden und -verbindenden Lehrerfahrungen. Gedenkstätten als „historische Orte“ erkennen sie nicht als ihre primären Ansprechpartner:in. In einem kooperativen Seminar- und Exkursionsformat für Studierende und Referendar:innen können diese von dem jeweiligen – theoriegeleiteten und praxisorientierten – Zugang profitieren und die Angebote der Gedenkstätten bezüglich ihrer Bedarfe reflektieren.

Einstellungen der Lehrkräfte im Fokus

Die Vorstellungen von Lehrkräften, dass Gedenkstätten Orte der Wissensvermittlung seien, kollidiert mit ihrem Wert als diskursive und lernende Erinnerungsorte. Um eine Brücke zwischen Einstellungen/Erwartungen und Wert/Nutzen zu bauen, werden kooperative Lehrformate vorgeschlagen. Dies bezieht sich auf die Kooperation zwischen Universitäten und Gedenkstätten, wie auch zwischen Universitäten und den Fachrichtungen Geschichtsdidaktik und Geschichtswissenschaft, wobei die Studierenden mögliche „West-“ und „Ost-Erfahrungen“ reflektieren können.

Selbstverständliche Einbeziehung

Ausgehend von der Vision einer selbstverständlichen Einbeziehung von außerschulischen Lernorten in den Unterrichtsalltag, wird vorgeschlagen, in einem ersten Schritt gemeinsam mit engagierten Schulen bestehende Kooperationen als „best practice“ heranzuziehen und faktenbasiert zu evaluieren, sodann über Social Media jene zu erreichen, die offen sind für neue Impulse und sich inspirieren lassen (Push-Pull). Um eine breite Basis zu erreichen wird einerseits eine Integration in die Lehrkräfte-/Referendariatsausbildung und andererseits eine Integration in die Rahmenlehrpläne angestrebt. Überwölbendes Ziel ist die demokratische Erziehung.

Emotionen

Emotionen als Bestandteil des Lernens und Lehrens an Gedenkstätten werden noch zu wenig systematisch thematisiert, kategorisiert und analysiert. Eine Versachlichung auf empirischer Grundlage kann zum Abbau von Unsicherheiten bei Lehrkräfte führen, und zugleich einen Reflexionsprozess an Gedenkstätten anregen, bewusst und differenziert mit ihrem emotionalen Potential umzugehen. Studierende und Referendar:innen können frühzeitig einen reflektierten Umgang mit Emotionen erlernen und den emotionalen Prozess (angeleitet z.B. durch Material der GS) begleiten mit dem Ziel, Überwältigung zu vermeiden und Emotionen in die Analyse von Gedenkstätten einzubeziehen.

Ergebnisoffenes Lernen

Ausgehend von der Herausforderung, „Demokratieerziehung“ nicht mit vorgegebenem Ziel sondern als Aushandlungsprozess zu verstehen, wird das besondere Potential von Gedenkstätten in ihrem Wert als Orte des historisch-politischen Diskurses gesehen. Dieses Potential kann sich v.a. dann entfalten, wenn die Gedenkstätten und Lehrkräfte dem Ansatz des ergebnisoffenen Lernens Raum in ihrer Vermittlungsarbeit geben. Möglichkeiten können in der Projektarbeit sowie in der frühzeitigen Einbeziehung von SuS in die Vorbereitung von Gedenkstättenbesuchen liegen.

Fazit

Ergebnis

Im Auftaktworkshop wurden sechs praxisorientierte Ansätze zur Förderung professioneller Kompetenzen von Geschichtslehrkräften beim Lehren und Lernen an und mit außerschulischen Lernorten gemeinsam erarbeitet. Zu manchen bahnen sich aktuell engere Kooperationen im Rahmen des Projekts #Gedenkstättenkompetenz an. Andere benötigen eine strukturierte Einbindung in den Gesamtprozess des Projekts und werden aktuell im Team der Projektpartner:innen diskutiert. Gemeinsam mit Euch möchten wir an diesen Themen weiterarbeiten!

Titel-Bild:
Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße, Foto © WWU Münster