Hintergrund

Geschichte wird an vielen Schulformen in sogenannten Verbundfächern unterrichtet. In NRW ist hier das Fach Gesellschaftslehre zu nennen, in dem Unterrichtsgegenstände aus historischer, politischer, ökonomischer und geographischer Perspektiven zu thematisieren sind. Historische Lernorte selbst bieten vermehrt Angebote an, die sich nicht ausschließlich aus historischer Perspektive mit dem jeweiligen Ort und den dort vermittelten Inhalten befassen. So ergänzen beispielsweise sprach- und literaturdidaktische Workshops zunehmend das gedenkstättenpädagogische Repertoire.

Vor diesem Hintergrund kamen im Sommersemester 2023 Studierende der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Universität Münster unter dem Oberthema „Fächerverbindendes historisches Lernen an außerschulischen Lernorten zur DDR-Geschichte“ zu einer viertägigen Exkursion in Berlin zusammen. Ziel der Exkursion war es, Ausstellung(en) und Außengelände ausgewählter historischer Lernorte zur deutsch-deutschen Teilungsgeschichte und SED-Diktatur – konkret der Gedenkstätte Berliner Mauer, der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde und der Stasi-Zentrale. Campus für Demokratie (sowie der East Side Gallery ) – unter geschichtswissenschaftlichen wie auch unter geschichtsdidaktischen und -kulturellen Fragestellungen zu erschließen. Ferner erprobten Lehramtsstudierende aus Münster an den historischen Lernorten ausgewählte Bildungsangebote für Schulgruppen und diskutierten diese auf einer Metaebene in Hinblick auf ihre Potentiale für fächerverbindendes historisches Lernen.

Lernortbesuche

Erkundung der Lernorte mit Unterstützung der Bildungsteams

© BfB | Stefan Günther

Ein erstes Zusammenkommen der Studierendengruppen fand in diesem Semester in den Räumlichkeiten des Projektförderers, der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, statt. Studierende lernten sich auf diesem Weg einerseits persönlich kennen und Sie stellten sich andererseits gegenseitig ihre im Seminar vorentwickelten Hypothesen vor, die sie während der Erkundung der drei historischen Lernorte überprüfen wollten. Für den Besuch an der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde stellten die Studierenden u.a. die Erwartung, dass „der historische Ort und dessen aktuelle Nutzung […] »authentische« Einblicke in fächerverbindende Themenkomplexe wie beispielsweise die Wahrnehmung von Raum und Grenzerfahrungen“ bieten könne; für jenen an der Gedenkstätte Berliner Mauer nahmen die Studierenden u.a. an, dass „durch den Workshop der »fotografischen Spurensuche« […] die Veränderungen im Stadtbild, die räumliche Dimension der Mauer und die aktuelle Prägung im Stadtbild erfahrbar“ werde.


An den darauffolgenden Tagen widmeten sich beide Studierendengruppen – in weiten Teilen gemeinsam – ganztägig einem historischen Lernort zur Überprüfung ihrer Hypothesen.
Zum Auftakt wurde die Gedenkstätte Berliner Mauer erkundet: Hier wurden im Rahmen einer Führung durch das Außengelände zunächst grundlegende Inhalte zur Geschichte der Berliner Mauer sowie zur Entstehungsgeschichte der Gedenkstätte und ihrer Konzeption vermittelt. Weiterführende bzw. vertiefende Fragen, etwa zur (kuratorischen) Gestaltung des Außengeländes, zu Möglichkeiten und Praktiken des (kollektiven) Gedenkens am historischen Ort oder zur gedenkstättenpädagogischen Bildungsarbeit, konnten in einem gemeinsamen Reflexionsgespräch mit Frau Passens und Frau Bellmann (Abteilung historisch-politische Bildung) diskutiert bzw. geklärt werden. Während die Jenaer Studierenden im Anschluss eine vertiefende, individuelle Analyse des Außengeländes vornahmen und anschließend ihre Beobachtungen reflektierten, erprobten Münsteraner Studierende den Workshop „fotografische Spurensuche“ zunächst aus Schülerperspektive. In einem zweiten Schritt beurteilten sie im Austausch mit dem Leiter des Workshops Fritz Kusch auf einer Metaebene Herausforderungen und Potentiale des Bildungsangebots für fächerverbindendes (historisches) Lernen.


Am folgenden Tag fand die Besichtigung der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde statt. Bettina Effner (Leiterin) und Kathrin Steinhausen (Abteilung historisch-politische Bildung) führten zunächst durch die Dauerausstellung „Flucht im geteilten Deutschland“ und über das Außengelände. Gegenwartsbezüge in Hinblick auf migrations- und asylpolitische Herausforderungen wurden hierbei nicht nur anhand der Geschichte des historischen Orts hergestellt, sondern auch eindrücklich anhand der Begehung von Teilen des Außengeländes, die heute – unterstützt vom Internationalen Bund – als Übergangswohnheim für Geflüchtete genutzt werden, vor Augen geführt. In der anschließenden Diskussion und Reflexion interessierten sich die Studierenden zum einen für die Gestaltung der Zusammenarbeit mit Flüchtlingen in Veranstaltungen und Bildungsangeboten an der Erinnerungsstätte. Ein weiterer Diskussionsschwerpunkt kreiste um Ansätze und Perspektiven einer Neukonzeption der Ausstellung unter Berücksichtigung von diversitäts- und inklusionssensiblen Aspekten, die am Beispiel der Auswahl von und der Arbeit mit biografischen Fallbeispielen spezifiziert wurden. Zudem wurde dazu angeregt, bei einer zukünftigen (Dauer-)Ausstellung noch verstärkter die Migrationsgeschichte des historischen Orts nach 1989/90 in den Blick zu nehmen.


Nachmittags nahmen Studierende aus Münster an dem von Schriftsteller Jan Skudlarek geleiteten Workshop „(Zur) Geschichte schreiben“ teil – ein Bildungsangebot, das historisches Lernen im Themenfeld der Deutsch-deutschen Teilungsgeschichte durch einen literarisch-künstlerischen Zugang anvisiert und dabei einen Schwerpunkt auf die Förderung narrativer Kompetenzen setzt. In der Nachbesprechung interessierten sich die Studierenden insbesondere für die gesammelten Praxiserfahrungen mit Schulgruppen. Hierbei stellte sich unter anderem die Frage, inwiefern durch das Verfassen künstlerischer Texte (ggf. in unterschiedlichen Genres) kreatives und affektives Lernen unterstützt wird, aber gleichzeitig anmaßende Interpretationen vermieden bzw. kritisch reflektiert werden. In diesem Zusammenhang wurde auch über die Notwendigkeit einer historischen Kontextualisierung der am Lernort verhandelten Themen in der unterrichtlichen Vor- und Nachbereitung diskutiert.


Am letzten Exkursionstag setzten sich Münsteraner und Jenaer Studierende mit dem wohl komplexesten historischen Lernort, der Stasi-Zentrale. Campus für Demokratie auseinander. Axel Janowitz, Leiter des Bildungsteams Stasi-Unterlagen-Archiv, gelang es dabei, in einem eng gesetzten Zeitrahmen Grundlagenwissen über den Gebäudekomplex und sein Gelände sowie über die Träger der dort befindlichen Ausstellungen zu vermitteln. In seinem daran anschließenden Vortrag über die Geschichte der Stasi wurden auch aktuelle rechtliche Rahmenbedingungen zum Umgang mit bzw. zur Einsicht von Stasi-Akten behandelt. Zuletzt folgten Führungen durch die Ausstellung „Einblick ins Geheime“ (Stasi-Unterlagen-Archiv) und durch das Stasi-Museum (ASTAK e.V./BStU), in denen Axel Janowitz sowohl über Hintergründe zur jeweiligen Ausstellungskonzeption als auch über Potentiale und Herausforderungen der archivpädagogischen Bildungsarbeit mit Schulgruppen informierte.
Eine ursprünglich geplante übergeordnete Abschlussreflexion wurde zugunsten einer vertiefenden Frage- und Diskussionsrunde zum Lernort Stasi-Zentrale. Campus für Demokratie zunächst ausgelassen und in das universitäre Seminar verschoben. Dies ermöglichte es, sich z.B. mit Fragen nach (vermeintlicher) Authentizität im Stasi-Museum (Bsp. Mielkes Büro) oder nach Zukunftsperspektiven des historischen Lernorts (Umsetzung des Forums Opposition und Widerstand 1945-1990) näher auseinanderzusetzen. Auf (fach-)didaktischer Ebene wurden etwa Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung von inklusiven und sprachsensiblen Bildungsformaten erörtert.

Evaluation

Evaluation der Organisation und inhaltlichen Gestaltung

(nachfolgende Ausführungen ergaben sich aus Ergebnissen von Abschlussbesprechungen im Seminar, Evaluationstool und internen Reflexionsgesprächen mit Projektpartner:innen)

Als empfehlenswert für zukünftige Exkursionen erwies sich…

  • … die tiefgründige und gemeinsame Auseinandersetzung mit einem historischen Lernort pro Exkursionstag. Dies ermöglichte sowohl (spontane) Diskussions- und Reflexionsgespräche unter den Studierenden als auch geplante, im Plenum ausgetragene Diskussions- und Reflexionsgespräche mit dem (gedenkstättenpädagogischen) Bildungspersonal und den Dozierenden – stets auf einer gemeinsamen inhaltlichen Grundlage. Ein solches Vorgehen bewährte sich ferner auch aus logistischen bzw. pragmatischen Gesichtspunkten, da somit die zur Verfügung stehende Zeit durch – im Vergleich zur Exkursion im SoSe22 – weniger (aufwendige) Fahrten mit dem ÖPNV produktiver genutzt werden konnte.
  • … die Kombination aus einer zunächst (eher) deduktiven Vermittlung von Grundlagenwissen (insb. zur Geschichte des historischen Ortes sowie zur Konzeption von Ausstellung und Außengelände) im Rahmen von Überblicksführungen und – darauf aufbauend – einer eigenständigen, vertiefenden und aktivierenden Erarbeitungsphase, z. B. in Form einer fokussierten Analyse des historischen Lernorts (Studierendengruppe aus Jena) oder der Erprobung und Reflexion von gedenkstättenpädagogischen Bildungsangeboten im Rahmen interaktiver Lernsettings (Studierendengruppe Münster).
  • … die Durchführung der Berlin-Exkursion in der Mitte des Semesters. Dies ermöglichte eine ausführliche Nachbereitung im Seminar, die zur Entwicklung von inhaltlich-methodischen Formaten der Vor- und Nachbereitung von Besuchen an historischen Lernorten mit Schulgruppen unter dem Ansatz fächerverbindenden Lernens genutzt werden konnte (Produktorientierung). Darüber hinaus konnten nachfolgende Seminarsitzungen eine ausführliche Reflexion und Evaluation von Seminar und Exkursion im Plenum sicherstellen.

Als optimierungsbedürftig für zukünftige Exkursionen erwies sich…

  • … der zeitliche Rahmen: Zukünftig könnte noch mehr Raum für Abschlussdiskussionen zwischen Studierendengruppen aus Münster und Jena zum Ende der einzelnen Exkursionstage geschaffen werden, um Lernerträge aus den Arbeitsphasen mit stärker fachdidaktischer Ausrichtung (Studierendengruppe Münster) und mit stärker fachwissenschaftlicher Ausrichtung (Studierendengruppe Jena) am Nachmittag zusammenzuführen. Dies würde einen vertieften Erfahrungsaustausch sicherstellen.
  • … die Reihenfolge der zu besuchenden Lernorte: Für die Erkundung des Außengeländes sowie der unterschiedlichen Ausstellungen an der Stasi-Zentrale. Campus für Demokratie wurde am wenigsten Zeit eingeräumt, obwohl sich dieser historische Lernort als sehr komplex darstellt. Eine übergeordnete Abschlussdiskussion war somit am letzten Tag aus Zeitgründen nicht mehr möglich. (An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass organisatorische Umstände es nicht ermöglichten, den Lernort an einem der vorherigen Tage zu erkunden.)
Einordnung in den Projektkontext

Einordnung der Exkursion in den Projektkontext

Die Exkursion fand im Rahmen des Projekts #Gedenkstättenkompetenz. Lernen an und mit außerschulischen Lernorten – als insgesamt dritte in Präsenz – statt. In diesem Projekt entwickeln die Projektpartnerinnen und Projektpartner aus Lehre, Archiv- und Gedenkstättenpädagogik gemeinsam mit dem Bund für Bildung e.V. neue, kooperative Seminar- und Exkursionsformate und erproben sie gemeinsam mit Studierenden der beteiligten Universitäten. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Exkursionen, die seit 2021 im Rahmen des Projekts stattfinden, ist es, Studierenden die Möglichkeit zu eröffnen, verschiedene historische Lernorte zur deutschen Teilungsgeschichte und ihre Konzepte kennenzulernen und Gedenk- und Erinnerungsstätten (sowie Archive) als diskursive Orte der Auseinandersetzung mit Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsperspektiven zu begreifen. Hiermit trägt das Projekt zur Professionalisierung von Lehrkräften bei.

Titel-Bild:
© Stefan Günther