Hintergrund

Geschichte wird in Gedenkstätten trotz des Bezugs auf einen (scheinbar) authentischen historischen Ort in hohem Maß inszeniert. Welche Inszenierungstechniken werden dabei mit welchen Intentionen verwendet? Und wie lassen sich Gedenkstätten und ihre Ausstellungen hinsichtlich ihrer Inszenierungen analysieren?

Mit diesen Fragen setzte sich die zweiteilige Exkursion „Gedenkstätte neu denken. Lernorte zur doppelten deutschen Diktaturgeschichte im Vergleich“ auseinander.

Studierende der Universität Erfurt und der WWU Münster trafen sich zur Diskussion dieser Fragen an zwei aufeinander folgenden Wochen in der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt (09. bis 11. Januar 2023) und am Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster (16. bis 18. Januar 2023). Ziel beider Teilexkursionen war es demnach, die Dauerausstellungen der historischen Lernorte zunächst inhaltlich zu erschließen, sie darauf aufbauend nach geschichtsdidaktischen und kuratorischen Kategorien zu analysieren und schließlich – getreu dem Motto „Gedenkstätte neu denken“ – Konzepte für ihre Weiterentwicklung zu erarbeiten.

Vorbereitung

Vorbereitende Seminare

Die Vorbereitung auf die gemeinsame Auseinandersetzung an den historischen Lernorten fand im laufenden Wintersemester in parallelen Seminarveranstaltungen bei Dr. Jochen Voit und Judith Mayer (Univ. Erfurt/Leitung bzw. stellvertretende Leitung der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße) bzw. bei Dr. Martin Schlutow und Felix Ostermann (WWU Münster/Mitarbeiter des Instituts für Didaktik der Geschichte) statt. Nach theoretischer Grundlegung wurde – in enger Absprache zwischen den Dozierenden – in den Seminaren ein Kategorienkatalog für die systematische Analyse von musealen Ausstellungen an historischen Lernorten entwickelt. Dieses wandten die Studierenden bei einer ersten, vorbereitenden Erkundung des jeweiligen lokalen Lernorts an, sodass sich die Exkursionsteilnehmenden im Vorfeld bereits auf inhaltlicher wie auf didaktischer und kuratorischer Ebene tiefergehend mit einer der fokussierten Ausstellungskonzeptionen auseinandergesetzt hatten.

Lernortbesuche

Gedenkstättenbesuch in Erfurt

Gedenkstättenbesuch Andreasstraße, Erfurt © WWU Münster

Das Exkursionsprogramm in Erfurt (9.-11. Januar 2023) begann mit einer Vorstellungs- und Kennenlernrunde im ‚Wahrzeichen‘ der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße, dem angebauten „Glaskubus der friedlichen Revolution“, gefolgt von einer Einführung in die vielschichtige Hausgeschichte durch den Gedenkstättenleiter, Dr. Jochen Voit. Bei der nachfolgenden Erschließung der auf drei Etagen angelegten Dauerausstellung „Haft – Diktatur – Revolution“ fand das in der Vorbereitung aufgebaute Expertenwissen der Erfurter Studierenden Anwendung: So führten diese die Münsteraner Studierenden – jeweils in Kleingruppen (Tandemführungen) – durch die Ausstellung.

Anlehnend an den zuvor entwickelten Analysekatalog widmeten sich die Kleingruppen hierbei einzelnen analytischen Fragestellungen näher: Welche Inszenierungsmittel fördern bzw. beeinflussen die Urteilsbildung? Welche Akteursperspektiven werden repräsentiert und auf welche Weise? Nach welcher Struktur werden Themenschwerpunkte einzelner Räume und Etagen miteinander verknüpft (Story-Telling)? (Wie) Wird der Konstruktcharakter von Geschichte transparent gemacht? Unterstützung bei der Auseinandersetzung mit ausgewählten Analysekategorien erhielten die Gruppen auf Nachfrage von den Mitarbeitenden der Gedenkstätte.

Erste Antworten auf die fokussierten Fragestellungen präsentierten die Studierenden zum Einstieg des Folgetags. Die Präsentationen dienten einerseits dazu, bei der anschließend vorzunehmenden Weiterentwicklung einzelner Ausstellungsräume oder -etagen den Blick auf einen bestimmten Schwerpunkt zu schärfen. Andererseits führten sie – insbesondere am Beispiel der „Haft-Etage“ (2. OG) – zu tiefergehenden Diskussionen etwa um Fragen nach vermeintlicher Inszenierung von „Authentizität“ und „Aura“ am historischen Ort und daran anknüpfende Fragen nach Emotionalisierung und Einhaltung des Überwältigungsverbots (Beutelsbacher Konsens). Ein weiterer wiederkehrender Diskussionsschwerpunkt kreiste um Potentiale und Herausforderungen bei der Thematisierung von Handlungsspielräumen im Alltagsleben der SED-Diktatur anhand von Comics, die in einem Ausstellungsraum („Sag mir wo du stehst“, 1. OG) als Partizipationsangebot für Besucher:innen verwendet werden. Judith Mayer (Thema Authentizität am hist. Ort) und Dr. Jochen Voit (Arbeit mit Comics) griffen diese Diskussionsinhalte in parallel ablaufenden, themenspezifischen Kurator:innenführungen auf.

Nach intensiver Gruppenarbeit stellten die Studierenden am Abschlusstag Konzepte für die Weiterentwicklung der Dauerausstellung vor. Das Spektrum reichte hierbei

  1. von sehr konkreten Überlegungen der Weiterentwicklung einzelner Ausstellungsräume, z. B. in Bezug auf die Einbindung autobiografischer Comics im „Comic-Raum“ (1. OG), die Reduktion von Objekten und Informationstexten im Sinne der Themenfokussierung im „MfS-Raum“ (1. OG) oder die veränderte Inszenierung ausgewählter Exponate (Räume „Sperre und Grenzzone“ und „politische Kunst“, 1. OG)
  2. über die Umgestaltung von Raumstrukturen einer gesamten Ausstellungsetage (SED-Diktatur, 1. OG) unter stärkerer Fokussierung der Hausgeschichte und Diktaturerfahrungen in Erfurt
  3. bis hin zu grundsätzlichen Ansätzen für die Weiterentwicklung der Ausstellungskonzeption durch Ausschöpfung von Potentialen der Digitalisierung und weiterer technischer Möglichkeiten (z. B. Holografie) sowie der Integration neuer Forschungsperspektiven (z.B. Geschlechtergeschichte)

Geschichtsortbesuch in Münster

Besuch der Villa ten Hompel in Münster, © WWU Münster

In der darauffolgenden Woche fand der Gegenbesuch der Erfurter Studierenden am Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster statt (16.-18. Januar 2023) . Peter Römer, wissenschaftlicher und pädagogischer Mitarbeiter des historischen Lernorts, führte zum Einstieg in die Hausgeschichte ein. Schwerpunktmäßig wurde hierbei die Villa ten Hompel als Sitz der Ordnungspolizei (Wehrkreis VI) zur Zeit des Nationalsozialismus behandelt. Ein persönlicher Zugang zum Thema Nationalsozialismus wurde durch einen Austausch im Plenum über die eigene(n) Familiengeschichte(n) – konkret die Lebenswege von (Ur-)Großeltern im 2. Weltkrieg und in der Nachkriegszeit – geschaffen.

Während sich die Münsteraner Studierenden im Anschluss ihr im Seminar erarbeitetes kuratorisches Wissen über einzelne Räume der Dauerausstellung „Geschichte – Gewalt – Gewissen“ in Erinnerung riefen und systematisierten, erhielten die Erfurter Studierenden und Mitarbeiter:innen der Gedenkstätte Andreasstraße eine Führung durch die Dauerausstellung mit inhaltlichem Schwerpunkt auf die Aufgaben und Handlungsspielräume der Ordnungspolizei im NS-Staat, vor allem deren Involvierung in die Organisation und Umsetzung des Holocausts. In Kleingruppen beschäftigten sich Erfurter und Münsteraner Studierende anschließend gemeinsam mit jeweils einem ausgewählten Ausstellungsraum vertiefend, indem sie diesen anhand kuratorischer und geschichtsdidaktischer Kategorien kritisch analysierten. Wiederkehrende Analyseschwerpunkte, die am Folgetag präsentiert und im Plenum diskutiert wurden, waren etwa:

  • die Auswahl sowie die Art und Weise der Behandlung von Täter:innen- und Verfolgtenperspektive anhand biografischer Fallbeispiele,
  • die Potentiale und Herausforderungen der Inszenierung von Objekten (ggf. in Kombination mit Medien) sowie von ,eindrücklichen‘ Statistiken etwa in Bezug auf deren Interpretationsspielräume,
  • die Ausstellung von Film- und Fotodokumenten als Mittel der Information und Gefahr der Überwältigung des Rezipienten
  • die Problematisierung der Weg- und Raumführung, etwa anhand der Raumbetitelung und der Gliederung des Raums in Unterthemen
  • die Berücksichtigung von Sprachsensibilität und Barrierefreiheit am historischen Ort für heterogene Besucher:innengruppen

Zu Beginn des letzten Exkursionstages erschlossen sich die Studierenden – unterstützt von Peter Römer – den noch unbekannten Ausstellungsraum 7 („Die Zukunft der Vergangenheit“). Gemeinsam erarbeiteten sie erste Ideen für eine inhaltliche Konkretion dort verhandelter Fragen nach der Praxis gegenwärtiger und zukünftiger Erinnerungskultur. In diesem Zusammenhang wurde sich tiefergehend mit Möglichkeiten und Grenzen der Integration von Kunst in historischen Ausstellungen auseinandergesetzt; zudem wurden Einsatzmöglichkeiten eines Partizipationsangebots für Besucher:innen erörtert. Den inhaltlichen Abschluss der Exkursion stellten die Präsentationen über Konzepte der Weiterentwicklung einzelner Ausstellungsräume der Villa ten Hompel dar. Oftmals richteten die Studierenden ein Hauptaugenmerk auf die Veränderung von (Objekt-)Inszenierungen mit dem Ziel, Deutungsangebote für Besucher:innen stärker in den Fokus zu rücken und diese leichter zugänglich zu machen. Hierbei konnte an kontrovers geführte Diskussionen angeknüpft werden, die während der gesamten Exkursion immer wieder anklangen und sich unter folgender Fragestellung bündeln lassen: Inwiefern sollten in historischen Ausstellungen Orientierungsangebote zur Förderung der Urteilsbildung für den:die Besucher:in bereitgestellt werden?

Fazit

Abschlussreflexion der Exkursionen

Die Abschlussreflexion wurde mit den Studierenden auf zwei Ebenen geführt: 1) der Reflexion des eigenen Professionalisierungsprozesses und 2) der Evaluation des Exkursionsformats.

Auf der Ebene der Reflexion des eigenen Professionalisierungsprozesses wurden Lerneffekte insbesondere im Bereich des geschichtsdidaktischen Wissens und des Geschichtswissens hervorgehoben. So äußersten die Teilnehmer:innen etwa, dass anhand der vorgenommenen Analysen von historischen Ausstellungen der Konstruktcharakter von Geschichte eindrücklich veranschaulicht würde – ein Potential für historisches Lernen, das (inhaltlich und didaktisch reduziert) auch im Geschichtsunterricht  genutzt werden könne, um Schüler:innen einen Zugang für die Auseinandersetzung mit und die Partizipation von Geschichtskultur zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang wurde den Studierenden bewusst, dass Ausstellungen in Gedenkstätten – insbesondere mit Themenschwerpunkt auf die deutsch-deutsche Teilungsgeschichte und SED-Diktatur – „umkämpfte Orte“ seien, da sich Fragen um die Deutungshoheit in einem stetigem Aushandlungsprozess zwischen unterschiedlichen Akteur:innen (Zivilbevölkerung/Zeitzeugen, Politik und (Geschichts-)Wissenschaft) befinden.

Konzeption und Durchführung des Exkursionsformats wurde von den Teilnehmer:innen insgesamt als sehr sinnvoll und ertragreich erachtet. Positiv äußerten sich die Studierenden zum Ansatz, sich mit der gesamten Gruppe einen Geschichtsort an drei aufeinanderfolgenden Tagen erschließen zu können und ihre Überlegungen zur Weiterentwicklung der Ausstellungen mit den Mitarbeiter:innen der Lernorte ,auf Augenhöhe‘ diskutieren zu können. Durch das gemeinsame Interagieren von Erfurter und Münsteraner Studierenden mit sehr unterschiedlichen Berührungspunkten und biografischen Bezügen zur DDR-Geschichte seien vielfältige Denkanstöße hervorgerufen worden; Ambivalenzen der Erinnerungskultur zwischen ost- und westgeprägten Studierenden seien deutlich geworden und sorgten für einen anregenden Austausch. Kurze Wege zwischen Unterkunft und Lernort, intensive und abwechslungsreiche Erarbeitungsphasen in unterschiedlichen Gruppenkonstellationen sowie wertschätzende Diskussionen mit den Dozierenden trugen außerdem zum Gelingen der Veranstaltung bei.

Im Nachgang der Veranstaltung wird das Exkursionsformat seitens der Studierenden evaluiert und die Erfahrungen der Lehrenden und Bildungsteams in einem Kooperationsbericht zusammengefasst.

Kontext

Kontaxtualisierung #Gedenkstättenkompetenz

Die Exkursion fand im Rahmen des Projekts #Gedenkstättenkompetenz. Lernen an und mit außerschulischen Lernorten statt. In diesem Projekt entwickeln die Projektpartner:innen aus Lehre, Archiv- und Gedenkstättenpädagogik gemeinsam mit dem Bund für Bildung e.V. neue, kooperative Seminar- und Exkursionsformate und erproben sie gemeinsam mit Studierenden der beteiligten Universitäten. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Exkursionen, die seit 2021 im Rahmen des Projekts stattfinden, ist es, Studierenden die Möglichkeit zu eröffnen, verschiedene Gedenkstättenkonzeptionen zur deutschen Teilungsgeschichte kennenzulernen und Gedenkstätten sowie Archive als Orte der Diskussion und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart zu begreifen. Hiermit trägt das Projekt zur Professionalisierung von Lehrkräften bei.

Fotogalerie
Titel-Bild:
Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße, Foto © WWU Münster